Sabine Braun: „Süchtig - Protokoll einer Hilflosigkeit" Zusammenfassung einer 14-jährigen Dokumentation.


1989 las ich den Zeitungsartikel „Mit 13 schon süchtig." Absprache mit Werner Filmer, dem damals zuständigen Redakteur beim WDR. Wir überlegten, eine Langzeitdokumentation zu machen. Ich sprach mit Tanja und ihrer Mutter, sie willigten ein.

Im Januar 1990 erster Drehtag, vorsichtiges Kennen lernen, Gespräche mit Mutter und Tochter.

Es folgten viele Telefonate mit zum Umfeld gehörenden Personen, ich suchte nach geeigneten Drehorten, Tanja wollte unabhängig von Frau Hülsen mit mir sprechen. Unkonventionell, flexibel, stellte uns der Geschäftsführer der Hamburger Kammerspiele Räume zur Verfügung, ebenso problemlos durften wir - nachdem ich mit. der Krankenhausleitung gesprochen hatte, im „Elim" drehen. Insgesamt 4 Termine ergaben sich im ersten Jahr, denn immer neue, unvorhersehbare Situationen entstanden.
1991: Mit einem Freund der Familie, Martin, ebenso mit Tanjas Mutter, hatte ich schon in den vergangenen Monaten regelmäßig telefoniert, nur aus unterschiedlichen Gesprächen versuchte ich für uns notwendige Drehtage herauszufinden. Ich vereinbarte Termine, z.B. mit Dr. Georg Chorzelski in der Drogenambulanz Altona, mit Dr. Klaus Behrendt, Krankenhaus Ochsenzoll, den Bewährungshelferinnen. Der Personenkreis vergrößerte sich, auch Freunde und Freier kamen dazu.

Für Tanja und ihre Mutter gab es für jedes Interview ein kleines Honorar, alle anderen Gesprächspartner - mit einer einzigen Ausnahme im Jahr 2003 -standen unentgeltlich zur Verfügung.

1992, im Juni, lief „Süchtig - Protokoll einer Hilflosigkeit" um 23.00 Uhr in der ARD. Die erstaunlich große Resonanz der Zuschauer, die vielen Briefe mit Anfragen, kleine Geschenke für Tanja, Ratschläge von Abhängigen die den Entzug erfolgreich geschafft hatten, veranlassten uns, Tanja weiter zu begleiten. Die Drogen bei Tanja, der Alkohol bei der Mutter - nichts hatte sich für uns Außenstehende zu dem Zeitpunkt verbessert. Im Dezember wurde der Film mit dem „Telestar" ausgezeichnet.
1993 -1995, Ich blieb über Monate und Jahre in Kontakt zu Tanja, mit ihren Schwestern, Frau Hülsen, und den jeweiligen Freunden, so weit möglich. Tanja besuchte ich auch zu einigen Geburtstagen, während unserer Spaziergänge erzählte sie z.B. von Situationen, die sie mit ihren Freien erlebte, ich hatte manches Mal einen knallroten Kopf. Es waren nicht nur die Drehtage, die ich mit Tanja verbrachte, zusammen mit ihr und Martin sollten viele Briefe beantwortet werden - das war ihr Wunsch. Soweit möglich, hatte ich die Antworten vorbereitet, dann kam, wie so häufig bei unseren Treffen, eine Unruhe bei Tanja auf, sie verabschiedete sich und verschwand.

Mit ihrer jüngeren Schwester ging sie eine zeitlang zum Eislaufen, es war eine große Kirmes in Hamburg, "Dom" genannt, auch hier haben wir sie begleitet und konnten manchmal ein fröhliches, lachendes Mädchen erleben, bis sie dringend eine Freundin treffen musste…
Nach vergeblichen Versuchen, im Krankenhaus Ochsenzoll einen Entzug durchzustehen, entschloss sich Tanjas ältere Schwester, ihr zu helfen. Gemeinsam planten sie den Entzug und wollten alle Schwierigkeiten durchstehen. Zwei Tage vergingen, Tanja wurde so aggressiv, ihre Schwester musste sie gehen lassen. Auch zu einem Gerichtstermin hat Tanja pünktlich zu erscheinen - aus Mangel an Beweisen wurde sie freigesprochen. Fast alle Termine, die im Zusammenhang mit Behörden, Bewährungshelferinnen und ähnlichem standen, verpasste Tanja. Sie blieb tage-, manchmal wochenlang für die Familie, für ihre Freunde und natürlich auch für uns, verschollen.

Der ENSSLIN - Verlag bat mich, aus meiner Warte ein Buch über die erste Zeit mit Tanja zu schreiben, es erschien 1994 unter dem gleichnamigen Titel des Films: „Süchtig - Protokoll einer Hilflosigkeit". Nach einer Verlagsübernahme erschien anschließend in der Arena - Life Serie die Taschenbuchausgabe.
1996 - 2000, das Thema Drogen, in allen Variationen, hatte nichts von seiner Aktualität verloren. Frau Dr. Harte, Tanjas behandelnde Ärztin, brachte sie in das in Hamburg laufende Polamidon Programm. Nach kurzer Zeit begann Tanja mit Beikonsum: Statt Heroin kaufte sie Kokain und spritzte weiter, probierte alle ihr auf der Straße angebotenen Tabletten und Drogen. Sie musste eine Haftstrafe absitzen, verlor ihre Zähne und während eines „Freigangs" gingen Tanja und ich zum Zahnarzt, alles war vorbereitet und innerhalb von zehn Minuten hatte sich ihr Aussehen total verändert. Sie schien überglücklich, zeigte fremden Menschen auf der Straße ihre neuen Zähne. Einer ihrer Freunde erwartete sie vor der Haustür um mit ihr „einen trinken zu gehen." Ich erinnerte sie eindringlich daran, pünktlich wieder in der Haftanstalt zu erscheinen. Drei Tage und drei Nächte später saß sie völlig abgestürzt vor ihrer Haustür, die Polizei brachte sie zurück. Eine weitere elfmonatige Haftstrafe musste sie später ohne einen Tag „Freigang" durchstehen. Auch hier habe ich sie privat besucht, auf ihren Wunsch hin. Auch hier kamen Themen auf, die den Rahmen der eigentlichen Dokumentation gesprengt hätten.

Mittlerweile hatten viele Schulklassen im Unterricht den Film gesehen und das Buch gelesen. Ein Schulbuchverlag, Cornelsen, wurde aufmerksam und hat Auszüge des Buches übernommen. Die Sendung ist in Dritten Programmen gelaufen und immer wieder gab es Post für Tanja und Anfragen an mich. Nach Bayern, Baden - Württemberg und Hessen wurde ich mehrfach in Schulen eingeladen. Wir sprachen stundenlang über Probleme, die sich im eigenen Elternhaus, in der Schule oder im weiteren Umfeld ergeben hatten, z.B. die Magersucht, die erstaunlich vielen Mädchen zu schaffen machte.

All diese Dinge kann ich mir nur anhören, ganz begrenzt einen vorsichtigen Rat geben. Einer fremden Person wie mir, kann man wohl auch leichter Probleme erzählen, Hauptsache, ich hörte zu. Eine Klasse aus Eichstätt beschloss ihren Ausflug nach Hamburg zu machen, voller Neugier verbrachten wir auch einen langen Abend auf der Reeperbahn.

Tanja brauchte viel Geld für ihre Drogen. Von einem neuen Freund wurde sie finanziell unterstützt, musste trotzdem wieder anschaffen gehen. Ihre Privatfreier, wie sie es nannte, hat sie nie ganz aufgegeben. Seit einem längeren Krankenhausaufenthalt war ihr bekannt, dass sie HIV positiv war, mochte lange Zeit nicht vor der Kamera darüber sprechen.

Ende des Jahres 2000 hatten wir so viele Tiefpunkte miterlebt, dass es nach Absprache mit Frau Dr. Harte und nach unserem eigenen Ermessen sinnvoll war, den Film zu beenden. 2001, im August, zeigte die ARD die Dokumentation über elf Jahre. Unser Redakteur, ebenso meine Kollegen und ich, haben mit diesem Thema nun endgültig abgeschlossen. Dann kam wieder die überraschende Reaktion der Zuschauer, Anrufe, Briefe, Geschenke, es gab viele Kritiken, die uns sehr gefreut haben. Nach einer kurzen Besprechung war klar: Wir machen weiter. Auch in Hamburg waren alle Betroffenen einverstanden.

2002 - 2003, Tanja saß mittlerweile ihre lange Haftstrafe ab. Ich erinnerte sie an die Gedichte und Briefe die sie für ihre Mutter, für Martin und andere, geschrieben hatte. Für ein Mädchen, das die dritte Schulklasse mit Mühe beendet hat, konnte sie ihre Gefühle und Gedanken erstaunlich ausdrücken. Aber hier, in ihrer Zelle, schrieb sie nur wenige Briefe an ihre Mutter.

Nach elf Monaten wurde sie entlassen, freute sich unbändig und war auf dem Weg zu Martin. Die Nachricht von seinem Tod traf Tanja mitten ins Herz. Die Monate vergingen, ihr eigener Zustand verschlechterte sich. Wir trafen uns, aber nicht zum Drehen, Tanjas damaliger „Freund" nahm starken Einfluss. Zu allen anderen Drogen kam verstärkt der Alkohol. Im Juli 2003 sprach ich mit Tanja - wieder vor der Kamera. Sie hatte einen neuen Freund und war verliebt. Erstmalig hat sie ein bisschen gearbeitet, auch darüber schien sie ganz glücklich. Sie musste nicht mehr anschaffen gehen, machte Pläne für die nahe Zukunft und sagte mir später leise mit ernstem Gesicht: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr."
Tanja stirbt am 6. Oktober 2003. Sie wurde 29 Jahre alt.
 

 

Sabine Braun, 13. November 2003
 

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